Leser, Wandler, Nullen und Jacker...
Ich habe diesen ersten Band der "Mindjack"-Trilogie auf deutsch gelesen und war so begeistert davon, dass ich mir die anderen beiden Bände direkt auf englisch gekauft habe! Die werden zwar auch noch übersetzt, aber ich konnte und wollte nicht warten.
Zum einen ist das Buch erfrischend originell. Susan Kaye Quinn entführt den Leser in eine komplexe, gut durchdachte Welt, in der Gedankenlesen seit vielen Generationen völlig normal ist und sich die ganze Gesellschaft in ihrem Verhalten und Denken dementsprechend entwickelt hat. Zum Beispiel ist es tabu, jemanden einfach so zu berühren, und es gibt gesetzliche Vorschriften, wieviel Abstand man einhalten muss, wenn man ein Haus baut, damit die Bewohner des Hauses nicht ständig die Gedanken ihrer Nachbarn hören müssen.
Was für eine Vorstellung! Ständig umgeben zu sein von den Gedanken anderer Menschen und nichts wirklich verbergen zu können... Diese Fähigkeit des Gedankenlesens entwickelt sich erst in der Pubertät, und manche Jugendliche werden tatsächlich vom ständigen Ansturm fremder Gedanken in den Wahnsinn getrieben. Kira dagegen, die keine Gedanken lesen kann und als "Null" gilt, wandert als Außenseiterin durch eine für sie stumme Welt, denn kaum noch jemand redet laut. Einsam inmitten der Menge!
Kira ist anfangs so daran gewöhnt, dass die Leute sie als Null in etwa so sehr schätzen wie den Dreck unter ihren Schuhen, dass sie - natürlich! - an ihrem eigenen Wert zweifelt und nicht unbedingt vor Selbstvertrauen strotzt. Wer würde das schon, wenn man Tag für Tag missachtet oder verhöhnt wird? Manchmal lässt sie sich leicht beeinflussen, und gelegentlich trifft sie eine Entscheidung, bei der ich den Kopf geschüttelt habe... Aber das war in meinen Augen gut so, denn zum einen machte es sie menschlich und authentisch, und zum anderen gab es ihr viel Raum, sich im Laufe des Romans weiterzuentwickeln und mehr über sich und ihre Fähigkeiten zu lernen. Der Leser begleitet sie auf dieser Reise, und ich fand das sehr spannend und schloss Kira schnell ins Herz.
Sie hat viele gute Eigenschaften: sie ist hilfsbereit, freundlich, intelligent, und sie entdeckt nach und nach ihren eigenen Mut und ihre Entschlossenheit. Sie strebt nicht nach großer Macht, sie hat keine Ambitionen, ihre Fähigkeiten für Ruhm oder Reichtum zu missbrauchen...
Raf, ihr bester Freund, ist ein sympathischer Kerl, der auch dann unerschüttlich zu ihr hielt, als alle anderen Freunde sie fallen ließen wie ein Stück Abfall - als immer offensichtlicher wurde, dass sie keine normale "Leserin" war. Er ist überhaupt kein Bad Boy, sondern scheinbar ein rundum guter Mensch, und das fand ich sehr erfreulich! Nur manchmal wünschte ich mir dann doch ein paar mehr Ecken und Kanten...
...doch dafür hat Simon, ein anderer junger Mann, der sich auf einmal in Kiras Leben drängt, genug Ecken und Kanten für zehn Charaktere. Lange konnte ich ihm nur wenig abgewinnen; er schien mir ein skrupelloser Kerl zu sein, der notfalls auch über Leichen gehen würde - aber so nach und nach gewann ich den Eindruck, dass auch Simon im Grunde nur ein Opfer seiner Welt ist. Mehr möchte ich noch nicht über ihn sagen, um nicht zu viel zu verraten!
Nach einem eher ruhigen Einstieg, in der der Leser Kiras faszinierende Welt kennenlernt, nimmt die Geschichte schnell an Fahrt auf, und danach konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Die arme Kira verstrickt sich in Lügen und Geheimnisse, und schon bald bricht ihre ganze Welt um sie herum in sich zusammen. Danach geht es nicht mehr nur darum, ob sie eine Außenseiterin ist oder studieren darf - es geht um ihr Leben, und aus der Science Fiction wird eine bedrückende und fesselnde Dystopie. Die Autorin bringt viele unerwartete Wendungen und interessante Ideen ein.
Es gibt eine Liebesgeschichte, es gibt romantische Irrungen und Wirrungen - aber eher am Rande, im Mittelpunkt steht doch Kiras Entwicklung bis hin zu ihrem Kampf ums Überleben. Ich würde die Romantik in "Open Minds" in etwa so bewerten wie die in "Die Tribute von Panem"!
Den Schreibstil fand ich sehr gelungen und gekonnt, wunderbar zu lesen und auch hervorragend übersetzt. Die Autorin streut viele Slang-Ausdrücke in Kiras Gedanken, die verdeutlichen, dass das Buch in einer Gesellschaft spielt, die ganz anders ist als unsere. Es gibt die "Leser", die "Nullen" und die "Wandler", die "Dementen", die "Jacker"...
Fazit:
In nicht zu ferner Zukunft ist Gedankenlesen normal, und wer das nicht kann, ist sozusagen ein Mensch zweiter Klasse. Außer den "Lesern" und den "Nullen" gibt es noch die geheime Unterwelt der "Jacker", in die sich die junge Kira verstrickt. Eine hochspannende Geschichte nicht nur für junge Leser, sehr originell und hervorragend geschrieben, mit einer sympathischen, glaubwürdigen Heldin. "Open Minds" ist ein großartiges Beispiel dafür, dass auch unabhängige Autoren fantastische Bücher schreiben können!