Die Geächteten

Die Geächteten - Hillary Jordan Eine Sache muss ich unbedingt als Erstes ansprechen: die Übersetzung. Die Übersetzung ist grauenhaft - sinnverfälschend und manchmal sogar unfreiwillig komisch. Wenn Toiletten erröten und Hände aussehen wie Seesterne aus einer anderen Welt, dann ist etwas mächtig schiefgelaufen... Ich kann nur ganz dringend empfehlen: wer sich für das Buch interessiert und auch englische Bücher liest, sollte sich unbedingt das Original zulegen und nicht die deutsche Ausgabe!

Bevor ihr aber das Buch kauft oder auch nur darüber nachdenkt, es vielleicht zu lesen: vergesst den Klappentext. Er suggeriert Dinge, die das Buch nicht liefert und die die Autorin wahrscheinlich auch nie liefern wollte. "Nun ist sie vogelfrei - und ihr Überlebenskampf beginnt"? Das klingt nach brutaler, atemloser Action, nach gnadenloser Jagd und Medienspektakel... Nach einem Buch, das mit Sicherheit Fans von "Die Tribute von Panem", "Die Auslese" und "Die Auserwählten im Labyrinth" ansprechen würde.

Aber dem ist nicht so. Ja, Hannah ist eine Rote. Sie hat ihr Kind abgetrieben, und im Amerika der Zukunft gilt das als Mord zweiten Grades. Ja, als Rote wird sie vom Großteil der Bevölkerung verachtet und gehasst, und es gibt tatsächlich Menschen, die Jagd auf "Verchromte" machen. Aber das ist nicht staatlich organisiert oder wird auch nur offiziell gebilligt. Es gibt keine Arena, keine Liveübertragungen... Es steht auch nicht im Zentrum dieser Geschichte.

Ich habe es eher so empfunden, dass das Thema Religion sehr zentral war, und zwar sowohl Religion als persönliche Entscheidung als auch Religion als staatliches Instrument der Macht. Religion als Mittel zur Unterdrückung weiblicher Selbstbestimmung wird ebenfalls des Öfteren angesprochen. Hannah ist z.B. in dem Glauben aufgewachsen, dass es Gottes Wille ist, dass sie als Frau den Männern in ihrem Leben untertan ist. Die Abtreibung ist ihr erster großer Akt der Rebellion, und auch dazu hat sie sich im Prinzip nur entschieden, um einen Mann zu schützen und den religiösen Status Quo ihrer Gemeinde nicht zu gefährden. Aber dadurch wird sie aus Allem herausgerissen, was sie bisher kannte, und beginnt, inmitten des Chaos und der ständigen Gefährdung, sich selber zu entdecken. Jetzt, wo sie nicht mehr durch ihren Glauben definiert wird, muss sie lernen, ihrem Leben selber einen Sinn zu geben. Und ob der Glaube an Gott dabei eine Rolle spielen wird oder nicht, ist nur noch ihre eigene Entscheidung.

Ich vermute, dass das Buch für Leser aus den USA eine deutlich schärfere Brisanz haben dürfte. Dort herrscht zwar ebenso wie in Deutschland eine Trennung von Staat und Kirche, aber das tägliche Leben wird dennoch oftmals sehr stark von christlich orientierten Werten geprägt. Die evangelikalen Christen, die unter Anderem dazu beigetragen haben, den Kreationismus in den Lehrplan öffentlicher Schulen aufzunehmen (also die Lehre, dass es keine Evolution gibt sondern alles Leben von Gott quasi "fertig" erschaffen wurde), haben großen politischen Einfluss, und auch andere religiöse Gruppierungen verfügen über politische Macht.

Es GIBT große Gruppierungen fundamentalistischer Christen, die glauben, die Ehefrau müsse dem Mann untertan sein. Es GIBT Christen, die es gerne sehen würden, dass christliche Gebote gesetzlich festgelegt werden.

Ich kann mir einen amerikanischen Staat, in dem Kirche und Regierung untrennbar verbunden sind, in dem Homosexuelle zur "Therapie" gezwungen werden und Abtreibung als Mord zweiten Grades gilt, nur zu gut vorstellen. Und wenn ich an den Ku-Klux-Klan denke, der HEUTE noch aktiv ist, dann kann ich mir auch "The Fist of Christ" vorstellen, die in diesem Buch Jagd auf Verbrecher machen - unter Anderem auf Frauen, die nach einer Vergewaltigung abgetrieben haben.

Ich denke, man muss auf jeden Fall Interesse an religions- und sozialkritischen Themen mitbringen, um das Buch interessant zu finden! Aber dann ist es durchaus eine originelle Dystopie, die etwas ganz Eigenes bietet, was ich so bisher noch nicht gelesen habe. Allerdings ist das Tempo größtenteils eher langsam und die Spannung unterschwellig. Vieles spielt sich sozusagen intern ab, in Hannahs emotionaler und mentaler Entwicklung. Es ist kein Thriller - es ist Sozialkritik, und es ist die Geschichte der Selbstfindung einer jungen Frau in einer Gesellschaft, die bedingungslose Unterordnung unter rigide und oftmals sexistische Werte verlangt.

Hannah war ein sehr interessanter Charakter, mit dem ich gut mitfühlen konnte. Nur manchmal war sie mir für ihren Hintergrund plötzlich zu taff und aggressiv, aber meist fand ich ihre Entwicklung glaubwürdig. Auch die Menschen, die sie auf ihrer Flucht trifft, waren größtenteils interessant und gut geschrieben. Viele der Verchromten wurden nur an den Rand der Gesellschaft gedrängt, weil sie der akzeptierten Norm nicht entsprachen, und die Autorin schafft es wirklich, einem die Ungerechtigkeit deutlich vor Augen zu führen. Interessanterweise sind es oft die scheinbar Guten, die nach außen hin als Musterbild christlicher Tugenden erscheinen, die hinter verschlossenen Türen ihr hässliches wahres Gesicht zeigen.

Gegen Ende gab es plötzlich eine homosexuelle Beziehung, die etwas aufgesetzt wirkte - mehr so, als hätte die Autorin auch diese unterdrückte Randgruppe noch schnell repräsentieren wollen. Das hätte man meiner Meinung nach auch weniger übereilt ansprechen können!

Im Original fand ich den Schreibstil eher ruhig und behäbig, aber dennoch gut zu lesen.

Wer einen nervenzerfetzenden dystopischen Thriller sucht, ist hier definitiv falsch. "Die Geächteten" ist eine eher ruhige, philosophische Dystopie, in der wir den Weg einer jungen Frau verfolgen, die sich aus dem Käfig sozialer, religiöser und staatlicher Zwänge befreit.