Gefährlich begabt

Gefährlich begabt - Simone Olmesdahl Die Fingerless sind eine alte, mächtige Magierfamilie. Menschliche Gefühle sind ihnen fremd - von Hass, Eifersucht, Mordlust und Machtgier einmal abgesehen. Schon seit Ewigkeiten stehlen sie begabten Menschen heimtückisch ihre magischen Talente, indem sie deren Vertrauen erschleichen und sich dann in ihrem Testament als Erben der Gabe einsetzen lassen... Und sie dann umbringen, wonach sie als "Visitenkarte" einen Finger des Opfers abschneiden.

Sebastian, der vielleicht Skrupelloseste der Familie, erlangt auf diese Weise die Gabe der Empathie: er kann jetzt die Gefühle anderer Menschen spüren. Was er sich nur als Erweiterung seiner Macht und praktisches Hilfsmittel für seine künftigen Morde gedacht hat, stellt sich als zweischneidiges Schwert heraus - das erste Mal in seinem langen Leben spürt er durch den Kontakt mit Anderen positive Gefühle wie Zuneigung und Liebe.

Anna ist die Erbin ihrer Tante, die als Medium Kontakt mit der Welt der Toten aufnehmen kann. Eigentlich will sie diese Gabe gar nicht! Aber es bleibt ihr keine Wahl, denn die Fingerless müssen gestoppt werden und vielleicht kann nur sie dabei helfen.

Als Anna Sebastian kennenlernt hat sie keine Ahnung, wer er wirklich ist. Sie fühlt sich direkt zu ihm hingezogen, was sie vor ihm natürlich nicht verbergen kann (und was ihr unheimlich peinlich ist). Sie hat ja keine Ahnung, wozu er in der Vergangenheit fähig war...

Pro:
Die Autorin hat ein paar erfrischend neue, originelle Ideen einfließen lassen! Das ganze Erbsystem in der magischen Welt - die Gabe wird nicht unbedingt an Kinder oder Blutsverwandte weitervererbt, sondern der Begabte kann sich frei aussuchen, wer sein Erbe sein soll - habe ich so noch in keinem anderen Roman gelesen. Auch die Idee, dass der Preis der Magie völlige Gefühllosigkeit ist, fand ich sehr interessant. Wie reagiert Jemand, der schon seit einer halben Ewigkeit lebt, wenn er das allererste Mal echte und vor Allem schöne Gefühle erlebt? Ein spannendes Thema!

Anna ist ein glaubwürdiger Charakter. Sie ist noch ein Teenager, man kann verstehen, dass ihr der Gedanke, mit der Welt der Toten kommunizieren zu können, eher Angst als Freude einjagt und sie gelegentlich etwas zickig reagiert. Aber nach anfänglicher Auflehnung hält sie sich tapfer und bemüht sich, ihre Gabe beherrschen zu lernen. Nur für ihr fieses Verhalten gegenüber ihrer Stiefmutter hat sie bei mir ein paar Sympathiepunkte verloren - mir kam die von Anfang an nicht halb so schlimm vor, wie Anna sie darstellt! Sie betitelt Sally als geldgeil und oberflächlich, aber beides kommt mir gar nicht so vor. Aber das Verhältnis der Beiden entwickelt sich noch etwas, was ich sehr gut fand. Ich hoffe, dass Sally auch im nächsten Band wieder vorkommt!

Sebastian... Ja, der ist so eine Sache für sich! In der Vergangenheit war er ein eiskalter Mörder, da gibt's kein Schönreden. Da stellt sich einem als Leser die Frage: ist sowas überhaupt verzeihlich, auch wenn Sebastian sich ändern sollte? Oder kann man einem Menschen ohne Emotionen gar keine Schuld zusprechen? Auf jeden Fall ist er ein interessanter Charakter, der zunehmend gegen seine eigene Natur ankämpft.

In den ersten Kapiteln hat mich die Geschichte noch nicht wirklich gepackt, sie nahm dann aber relativ schnell Fahrt auf und ich wollte wissen, wie es weitergeht. Es geht eben nicht nur um die Liebesgeschichte, sondern auch um Sebastians innerlichen Kampf, eine Prophezeiung, den Beirat der Begabten, die Mordfälle der Familie Fingerless und darum, wie man sie stoppen kann. Dabei wird die Handlung immer komplexer und dichter.

Das Cover steht irgendwo zwischen Pro und Contra: an sich gefällt es mir gar nicht so schlecht und ich kann mir vorstellen, dass es für die Zielgruppe durchaus ansprechend ist. Aber für die z.T. doch ziemlich düsteren Themen, die in dem Buch angesprochen werden, fand ich es ein wenig zu pink und mädchenhaft.

Kontra:
In den ersten Kapiteln werden viele Dinge, die der Leser wissen muss, einfach hier und dort dazwischen geschoben statt natürlich und flüssig in eine Szene integriert. Das hat mich etwas gestört und gelegentlich verhindert, dass ich in die Geschichte richtig eintauchen konnte. Z.B. stellt Annas Tante ihr in einer Szene die Frage, ob sie später zum Lagerfeuer geht - dann wird auf einmal ein paar (Kindle-)Seiten lang erklärt, dass Annas Eltern sich haben scheiden lassen, dass sie jetzt beim Vater lebt und dessen neue Freundin nicht leiden kann - was ja mit dem Lagerfeuer rein gar nichts zu tun hat. Dann geht der Dialog einfach weiter, als sei er nie unterbrochen worden.

Anfänglich fand ich den Schreibstil etwas holprig und verwirrend. Beides bessert sich aber deutlich im Laufe des Buches, und dann gefiel mir der Schreibstil sogar ziemlich gut! Gelegentlich fand ich ihn zwar etwas zu bemüht lustig, und die ein oder andere Metapher ein bisschen merkwürdig, aber dafür ist die Sprache der Autorin frisch und bildreich und lässt sich unterhaltsam und flüssig lesen.

Ein paar Phrasen wiederholen sich etwas zu oft. Tränen verlieren sich aus den Augenwinkeln, lösen sich aus den Augenwinkeln, schleichen sich aus den Augenwinkeln, stehen heimlich in den Augenwinkeln, perlen aus den Augenwinkeln...

Oh, eine Kleinigkeit: das Kindle-Buch enthält das falsche Cover, nämlich das von "Engelsjägerin" von Kira Licht, was aber ja nicht weiter schlimm ist.

Zusammenfassung:
Trotz meiner Einstiegsschwierigkeiten habe ich das Buch im Endeffekt doch gerne gelesen. Der Schreibstil ist nicht perfekt, aber trotzdem durchaus ansprechend, und die Geschichte war interessant und ungewöhnlich genug, um mich bis zur letzten Seite bei Stange zu halten. Den zweiten Band werde ich bestimmt auch lesen.