Oh du Jungfer Königin, da du gangest...
Märchennacherzählungen sind in den letzten Jahren immer beliebter geworden, und es gibt dabei die unterschiedlichsten Ansätze. Manche Autoren bleiben relativ nahe dran am Original, manche versetzen das Märchen aber auch in ein ganz anderes Genre, wie z.B. Marissa Meyer, die in ihren Büchern Märchen wie Cinderella oder Rotkäppchen als Science-Fiction neuerfindet.
"In Seide und Leinen" ist eine Nacherzählung des Märchens "Die Gänsemagd" von den Gebrüdern Grimm, und in meinen Augen hat die Autorin den ersten Weg gewählt - was der Originalität des Buches aber keinen Abbruch tut! Ihr Buch hat immer noch den Zauber und die Atmosphäre des Märchens, und sie webt gelegentlich Zeilen des Originals nahezu unverändert hinein, wie zum Beispiel:
"O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüsste,
ihr Herz tät ihr zerspringen."
Aber die Rahmenhandlung wurde von ihr deutlich erweitert, sowie neue Charaktere und viele spannende Wendungen hinzugefügt, so dass das Buch trotz aller Nähe zum Original zu etwas ganz Eigenem wird. So befindet sich zum Beispiel das Königreich, aus dem die junge Prinzessin Katharina stammt, hier in einem grausamen Krieg, und sie wird nur deswegen dem Prinzen des fernen Königreiches versprochen, um einen dringend benötigten neuen Verbündeten zu gewinnen.
Katharina ist am Anfang durch und durch eine verwöhnte kleine Prinzessin, das Goldkind ihres königlichen Vaters. Zwar ist ihr bewusst, dass sie im Schloss sicherer vor den Schrecken des Krieges ist als es die Bürger im Dorf sind, aber dennoch beklagt sie sich bitterlich über Langeweile. Sie sträubt sich auch zornig gegen ihre Verlobung mit dem Prinzen Levi, was ich ja einerseits verstehen konnte, denn sie kennt ihn nicht einmal - aber andererseits spielt das Märchen in einer mittelalterlichen Welt, in der kaum jemand den Luxus hatte, aus Liebe heiraten zu können, und diese Heirat könnte viele Leben retten.
Aber es dauert nicht lange, bis Katharina am eigenen Leib erfahren muss, dass Langeweile in Zeiten des Krieges nun wirklich das geringste Problem ist. Verlust und Trauer, Vertreibung und Flucht... Sie wächst mit jedem Kapitel an ihren Erlebnissen, und das hat mir sehr gut gefallen. Aus dem verwöhnten Prinzesschen wird eine starke, mutige junge Frau, die das Herz am rechten Fleck hat!
Zu Katharinas erbitterter Feindin wird ihre Zofe Maree, die ihr ihre Identität nimmt und sie zu einem Leben als Gänsemagd zwingt. Ich rechne der Autorin hoch an, dass Maree keine eindimensionale Schurkin ist, die aus Geltungssucht oder Gier nach Macht und Gold handelt! Ich konnte sie anfangs sogar oft gut verstehen, aber ihr Hass vergiftet sie im Laufe des Buches immer mehr...
Die wichtigsten hinzuerfundenen Charaktere sind sicher Linza und Estienne.
Linza ist eine junge Bauerstochter, mit der Katharina sich heimlich angefreundet hat und die sie auf ihrer Flucht begleitet. Ich möchte noch nicht zu viel über sie verraten, um nichts vorwegzunehmen, aber sie war für mich ein sehr glaubhafter, interessanter Charakter.
Estienne ist ein junger Taugenichts, der reihenweise die Herzen der Zofen und Mägde bricht. Eigentlich ist er der Lehrling des Schmieds, aber er schleicht sich oft davon, um ins Dorf zu gehen oder sonstwo etwas zu erleben, statt zu arbeiten. Und natürlich ist er es und keineswegs der Prinz, der Katharinas Herz schnell erobert!
Diese rührende Liebesgeschichte führt zu einem interessanten Dilemma, das es im Originalmärchen so nicht gab: Katharina will ihr Leben zurück, sie möchte wieder als Königstochter anerkannt werden - aber sie weiß auch, dass Estienne dann kein standesgemäßer Mann für sie wäre...
Der Schreibstil trifft meiner Meinung nach genau die richtige Balance: er bewahrt die Essenz des Märchenhaften, ohne dabei auf den modernen Leser zu steif und förmlich zu wirken. Mir hat er wunderbar gefallen!
Mein einziger kleiner Kritikpunkt: in den ersten 69% des Buches sehen wir die Ereignisse ausschließlich aus Katharinas Augen. Sie erzählt ihre Erlebnisse in der Ich-Perspektive, und ich fand ihre "Stimme" sympathisch und fesselnd.
Dann springt die Geschichte auf einmal in die Gedanken von Estienne! Danach wechselt die Perspektive ein paarmal ohne Überleitung zwischen Katharina und Estienne hin und her. Leider war Estienne für mich ein weniger überzeugender Erzähler als Katharina, und seine Sicht der Dinge hat mich nicht halb so sehr gepackt; vielleicht, weil der Leser nur wenig Zeit hat, sich wirklich in ihn hinein zu versetzen.
Fazit:
Eine in meinen Augen wunderbar gelungene Nacherzählung des Märchens "Die Gänsemagd"! Die Autorin bleibt nahe dran am Zauber des Originals und drückt der Geschichte dennoch ihren eigenen Stempel auf, indem sie neue Charaktere hinzufügt und der Handlung die ein oder andere unerwartete Wendung gibt.
Ich fand die Charaktere interessant (und deutlich komplexer, als Charaktere in Märchen das für gewöhnlich sind), die Liebesgeschichte zauberhaft und den Schreibstil bis auf einen kleinen Kritikpunkt sehr ansprechend... Eine ganz klare Leseempfehlung für Leser, die Märchen und Märchenneuerzählungen mögen!