Leise Töne und bescheidenes Glück
"Der Herr der kleinen Vögel" ist ein Buch der leisen Töne, der kleinen Dinge, des bescheidenen Glücks oder Unglücks. Der Leser wird eingeladen, zur Ruhe zu kommen und einer Geschichte zu lauschen, auf die man sich einlassen muss, die dann aber einen ganz eigenen poetischen Zauber entfaltet.
Behutsam erzählt Yoko Ogawa die ungewöhnliche Lebengeschichte zweier Brüder, die eine Faszination für Vögel und deren Gesang teilen, auch über den Tod des älteren hinaus. Ihre Namen werde im ganzen Buch niemals erwähnt (sie sind immer nur "der Ältere" und "der Jüngere"), und auch sonst verzichtet die Autorin weitgehend auf Etiketten.
Der ältere Bruder spricht schon seit seiner Kindheit ausschließlich in einer selbst erfundenen Sprache und braucht seine festen Rituale, um glücklich zu sein. Da kann man als Leser insgeheim spekulieren: Selektiver Mutismus? Autismus? Die Autorin verrät es uns nicht, aber das ist auch gar nicht nötig. Der jüngere Bruder findet ein wunderbares Bild: in seiner Vorstellung ist der Ältere der alleine Bewohner einer einsamen Insel, und nur sein Boot findet den Weg dorthin.
Die beiden leben fast vollkommen isoliert, ihr Leben richtet sich noch im Kleinsten nach den Ritualen des älteren Bruders. Sie essen immer das Gleiche, besuchen gemeinsam die Vogelvoliere des nahegelegenen Kindergartens und unternehmen ausgedehnte, metikulös geplante Weltreisen - Letzteres jedoch nur in ihrer Fantasie. Es ist eine Geschichte bedingungsloer Liebe, ruhig und ohne Pathos erzählt und dennoch bewegend.
Nach dem Tod des Älteren ist der Jüngere im Grunde sein ganzes restliches Leben auf der Suche nach dessen Insel. Auch, dass er die Pflege einer zu einem Kindergarten gehörenden Vogelvoliere übernimmt, obwohl er Angst vor Kindern hat, geschieht zunächst im Angedenken an seinen Bruder, entwickelt sich dann aber zu einer echten Liebe zu den Vögeln. Die Kinder nennen ihn daher "Herr der kleinen Vögel".
Die Geschichte hat in meinen Augen keinen ausgeprägten Spannungsbogen. Das Leben des Jüngeren ist meist eher ein stiller See denn ein bewegtes Meer. Menschen treten in sein Leben und verschwinden wieder, gute und schlechte Dinge passieren... All das sind nur Steine, die ins Wasser seines Sees fallen und für kurze Zeit Kreise ziehen. Manches bleibt gänzlich ungeklärt.
Diese Offenheit hat jedoch etwas beinahe Schwereloses, wie ein langer Tagtraum. Ich habe mich beim Lesen keineswegs gelangweilt. Yoko Ogawa findet wunderschön verträumte, zarte Worte. Ich habe immer wieder innegehalten, um mir einen Satz auf der Zunge zergehen zu lassen.
Der Jüngere ist mir sehr ans Herz gewachsen - er ist ein ruhiger Mensch mit einfachen, bescheidenen Wünschen. Sein Leben wirkt unspektakulär und sogar einsam, aber er findet auch immer wieder Erfüllung in den kleinen Dingen. Als ich das Buch zuschlug, hatte ich fast das Gefühl, einen alten Freund verloren zu haben.
Da die Brüder nur wenig mit anderen Menschen interagieren, bleiben die anderen Charaktere eher unvollständig. Manchmal wirken sie wie bloße Kulisse, während die Vögel lebendig und individuell geschildert werden - aber anders könnte diese Geschichte vielleicht gar nicht erzählt werden, und ich habe beim Lesen nichts vermisst.
Fazit:
"Der Herr der kleinen Vögel" ist ein wunderbares Buch, das sich nur schwer beschreiben lässt und an das man möglichst ohne Erwartungen herangehen sollte.
Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Nach dem Tod der Eltern leben zwei Brüder ihr ganzes Erwachsenenleben zusammen, bis auch der Ältere schließlich stirbt. Da er Vögel über alles geliebt hat, bietet der Jüngere an, fortan kostenlos die Voliere des örtlichen Kindergartens zu betreuen. Manchmal geht er in die Bibliothek, um die Bibliothekarin scheu beobachten zu können, und im Park lernt er einen alten Mann kennen, der stets eine Grille in einer hübschen Holzschachtel mit sich herumträgt. Dann passiert etwas, was seinem Spitznamen "Herr der kleinen Vögel" einen unschönen Beigeschmack gibt, und schließlich begegnet er Menschen, die von sich behaupten, den Gesang der Vögel zu lieben, ihn in Wirklichkeit aber für ihre eigenen Zwecke ausnutzen.
Aber eigentlich kommt es gar nicht darauf an, was genau passiert. Für mich war es die schlichte Poesie der Worte, die mich verzaubert hat, und der Einblick in ein bescheidenes Leben, das die meisten Menschen wohl nicht als sonderlich glücklich bezeichnen würden, das aber dennoch seine schönen, erfüllenden Momente hat.