Kein Schutz am vertrauten Ort

Monteperdido - Das Dorf der verschwundenen Mädchen: Kriminalroman - Agustín Martínez, Lisa Grüneisen

 

"Haben wir vielleicht schon zu viele Krimis gelesen? Oder sind wir einfach zu anspruchsvoll?"

Diese zweifelnde, fast schon verzweifelte Frage hört man oft, wenn sich einmal im Monat der Krimi-Lesekreis in meiner Lieblingsbuchhandlung trifft. Für gewöhnlich dann, wenn unsere Debatte über den Krimi des Monats sehr kurz ausfällt, weil wir uns alle einig darüber sind, dass a) das Ende vorhersehbar ist und b) die Themen alle schon mal dagewesen sind.

Denn wirklich, manchmal hat man das Gefühl, dass man dem müden Kommissar mit Ehe- und Alkoholproblemen schon tausendmal (mindestens!) begegnet ist, und man die dramatische Wendung gegen Schluss nur noch müde belächeln kann, weil man sie auf Seite 25 schon kommen sehen hat.

Deswegen ist es immer eine große Freude, beinahe eine Erleichterung, wenn ein Krimi dann doch noch begeistern, vielleicht auch verstören, aber auf jeden Fall mitreißen kann. Wenn einem die Geschichte so nahe geht, dass zwischendurch das Herz poltert oder man sich sogar ein Tränchen verdrücken muss. Und für mich war "Monteperdido" so ein Krimi, den man zuklappt und überlegt, ob man wohl noch jemanden aus dem Bett klingeln kann, um mit ihm über das Buch zu reden.

Es ist nicht nur die spannende Geschichte einer zweifachen Kindesentführung. Der Autor zeichnet auch das bedrückende Bild - beinahe schon eine Sozialstudie! - eines kleinen Bergdorfes, in dem jeder jeden kennt und dennoch alle ihre Geheimnisse haben. Man ist stolz darauf, dass man zusammenhält wie eine eingeschworene Gemeinschaft, aber wenn Zivilcourage gefragt wäre, schauen die Leute lieber weg, als den Dorffrieden zu gefährden. Je mehr man als Leser über die Menschen erfährt, desto weniger hat man das Gefühl, sie wirklich zu kennen, und desto verlogener und zerbrechlicher wirkt die heile Welt. Und das entfaltet eine ungeheure Sogwirkung.

Die Geschichte verästelt sich, bis man gar nicht mehr weiß, was nun wirklich mit dem Fall zu tun hat, und was einfach nur das schäbige kleine Geheimnis einer schäbigen kleinen Unlauterkeit ist. Die Ermittler interessiert im Grunde nicht, wer Drogen nimmt oder seine Frau betrügt, aber auszusortieren, wer wirklich Schuld auf sich geladen hat und wer nur seinen Status im Dorf gefährdet sieht, zehrt an Kraft und Ressourcen, während die Uhr tickt...

Agustín Martínez verzichtet auf Pathos, billige Spannungseffekte, inhaltsleeres Drama und Gewalt um der Gewalt willen. "Monteperdido" wirkt durch seine Atmosphäre und das, was sich zwischen den Zeilen verbirgt. Und das hat mich weit mehr gefesselt, als ich anfänglich erwartet hatte, denn zunächst erschien mir der Schreibstil ein wenig einfach und unterkühlt. Aber das trügt, denn er mag zwar einfach sein, in meinen Augen aber sehr wirkungsvoll.

Trotz aller falschen Fährten und unerwarteten Wendungen verzettelt sich der Autor nicht, es bleibt alles glaubhaft, logisch und in sich schlüssig, auch wenn man vieles erst im Rückblick wirklich einordnen kann.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht zum einen Kommissarin Sara Campos von der Bundespolizei. Da sie als Außenstehende nach Monteperdido kommt, wird sie von der Dorfbevölkerung misstrauisch beäugt, und besonders die Eltern der beiden Mädchen sind nach fünf zermürbenden Jahren wütend auf die Polizei, die ihnen bisher nicht helfen konnte. Mir war Sara sehr sympathisch, gerade weil sie sich emotional sehr einbringt in den Fall.

Die andere Schlüsselfigur ist nach meinem Empfinden Ana, die nach fünf endlosen Jahren, in denen sie nur zu ihrem Entführer und zu ihrer Mitgefangenen Lucia Kontakt hatte, gar nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist. Sie ist halb Kind, halb junge Frau, und was sie mehr will als alles andere, ist vergessen. Aber das geht nicht, denn ohne sie haben die Ermittler keine Chance, Lucia zu finden... Agustín Martínez zeichnet ein sehr behutsames, einfühlsames Portrait von Ana.

Wie schon gesagt, bei den anderen Charakteren hatte ich das paradoxe Gefühl, sie immer weniger zu kennen, aber dennoch erschienen sie mir alle gut geschrieben und vielschichtig.

Fazit:
Zwei kleine Mädchen werden entführt. Fünf Jahre später glaubt nur noch einer der verzweifelten Väter daran, dass seine Tochter Lucia noch lebt - doch dann ist es das andere Mädchen, Ana, das wieder auftaucht, und sie kann den Täter nicht beschreiben... Klar ist nur, für Lucia tickt die Uhr.

"Monteperdido" war für mich ein echtes Krimi-Highlight. Es lebt von seiner Atmosphäre, seinen Beschreibungen der Natur, seiner Studie des Lebens in einem kleinen Bergdorf, in der die heile Welt bröckelt, als das Misstrauen um sich greift. Der Autor beschreibt glasklar, wie sich die Geschehnisse auf die Psyche der Menschen auswirkt, besonders auf die beiden Mädchen, die ihrer halben Kindheit beraubt wurden.

Die Spannung hat mich bis zum Schluss nicht losgelassen, und das Ende war dann so unerwartet wie konsequent. Überhaupt fand ich das Buch erfrischend anders, definitiv kein Krimi-Einheitsbrei.

Quelle: http://mikkaliest.blogspot.de/2017/03/rezension-monteperdido-das-dorf-der.html