Viel Potential, enttäuschende Umsetzung
Die beschriebene Situation verspricht gemütliche Leseabende voller Thrillerspannung:
1.) Ein einsam gelegenes Haus. durch einen Schneesturm noch unerbittlicher von der Außenwelt abgeschnitten. 2.) Zwei entflohene Strafgefangene, der eine ein tumber Riese, der andere ein eiskalter Psychopath. 3.) Vater, Mutter und Teenagertochter, die den beiden wehrlos ausgeliefert sind. Und die Lage spitzt sich von Minute zu Minute mehr zu....
Das klingt vielleicht nicht nach etwas weltbewegend Neuem, aber dennoch nach den perfekten Zutaten für einen soliden psychologischen Thriller. Tatsächlich bringt die Autorin auch durchaus spannende Ideen ein und legt von Anfang an ein gutes Tempo vor! Leider ging die Rechnung für mich trotzdem nicht vollständig auf, sondern hinterließ bei mir einen zarten Beigeschmack der Enttäuschung.
Die Geschichte spielt sich auf zwei Zeitebenen ab: einerseits die albtraumhaften Geschehnisse in der Gegenwart, andererseits die Kindheit des Psychopathen Nick in den 70er Jahren. Gerade diese Rückblicke fand ich anfangs sehr interessant, denn ich war sehr gespannt darauf, wie die Autorin das zunehmend absurde Verhalten von Mutter und Sohn begründen würde - leider konnte mich die Erklärung dann jedoch nicht komplett überzeugen.
Was mich schon nach wenigen Kapiteln immer mehr störte (auf beiden Zeitebenen), waren vor allem die in meinen Augen maßlosen Übertreibungen. Zum Beispiel wird Harlan, der dumme, aber gutmütige Sträfling, als geradezu grotesk riesig beschrieben: so wird an einer Stelle gesagt, dass die 15-jährige Ivy ihm nur bis zum Bauchnabel reicht! Die kann sich später im Buch übrigens an einer Hauswand festhalten, in dem sie ihre Fingernägel in die Holzfassade krallt. Es gibt außerdem Charaktere, die anscheinend literweise Blut verlieren können, ohne zu sterben - und vieles mehr.
Auch das Verhalten der Hauptfiguren erschien mir oft unglaubwürdig. Ja, es ist eine Extremsituation, und in Extremsituationen tun Menschen unlogische Dinge, aber dennoch war es mir oft einfach zu weit hergeholt. (Leider kann ich hier kein Beispiel bringen, ohne schon zu viel zu verraten.) Dadurch fiel es mir auch immer schwerer, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern, und das nahm mir wiederum viel der Spannung, obwohl das Buch wirklich sehr temporeich erzählt wird und auch viel Action zu bieten hat.
Ja, ich habe mich von dem Buch durchaus irgendwie unterhalten gefühlt, und ich hatte es trotz aller Vorbehalte auch schnell durch. Man kann es meines Erachtens ganz gut lesen, aber es ist einfach kein Muss und ich vermute, dass es mir auch nicht lange im Gedächtnis bleiben wird. Das ist natürlich alles Geschmacksache, aber auf mich wirkte die Geschichte wie ein Actionfilm, bei dem man besser nicht zu genau darauf achten sollte, ob auch alles realistisch ist - und darauf lege ich bei einem Thriller einfach Wert.
Die Charaktere fand ich von ihren Anlagen her an sich alle interessant. Sie haben viel Potential, bleiben aber meiner Meinung nach in ihrem Verhalten doch oft zu flach, um wirklich authentisch, lebendig und glaubhaft zu wirken. Das ist aber wirklich nur eine Gratwanderung: ich hatte oft das Gefühl, dass nur ein winzig kleiner Schritt fehlte, um aus einem interessanten Klischee einen echten Menschen zu machen.
Auch der Schreibstil war für mich so eine Gratwanderung: er liest sich flüssig, er vermittelt gekonnt Atmosphäre und ein Gefühl der Dringlichkeit und Gefahr, aber die Metaphern und Bilder sind oft sehr weit hergeholt und rissen mich eher aus dem Lesefluss heraus. Ich habe nichts gegen detailverliebte Schreibstile, aber wenn die Details zu zahlreich werden und sich immer wieder überbieten, dann stumpft die Wirkung meines Empfindens irgendwann ab.
Fazit:
Von der Grundidee und den wichtigsten Charakteren her hätte "Night Falls" in meinen Augen das Potential für einen nervenzerfetzenden Thriller gehabt, wird diesem Potential aber leider nicht vollkommen gerecht. Viele Geschehnisse fand ich nicht glaubwürdig, und auch das Verhalten der Charaktere war für mich nicht immer schlüssig. Ich hatte oft das Gefühl, dass das Buch versucht, zu viel zu sein, immer noch schneller, noch grausamer, noch überraschender, und dass das gerade durch diese Übersteigerung irgendwann nicht mehr funktioniert.