Auserkoren

Auserkoren - Carol Lynch Williams, Petra Koob-Pawis Pro:
Das Interessante an dem deutschen Cover ist, dass man das Gesicht des abgebildeten Mädchens nicht sieht - nur die etwas altmodische Kleidung, die gut zum Inhalt passt. Weniger zum Inhalt passt der Nagellack, denn die Heldin dieses Romans ist ein Mädchen, dem alles verboten ist, was schmückend ist. Ihr Haar muss sie stets in strenge Zöpfe flechten und diese zurückstecken, sie muss lange Kleider und dicke Strumpfhosen tragen, damit soviel Haut wie möglich bedeckt ist... Und das ist eigentlich noch das Harmloseste an der Sekte, in der sie lebt.

Lesen darf sie auch nicht, denn Bücher sind Teufelswerk - dass sie heimlich Bücher aus dem Büchereibus ausleiht, ist gefährlich, denn sie könnte dafür hart bestraft werden. Sie muss auf dem Feld arbeiten, kochen und auf ihre zahlreichen Geschwister aufpassen - ihr Vater hat drei Frauen und daher hat sie 19 Schwestern und Brüder! Aber vor allem soll sie als Mädchen den Männern der Sekte und vor allem den "Aposteln" und dem "Propheten" in Allem untertan sein. Sie darf nicht widersprechen, und sie hat kein Recht darauf, ihr Leben so zu gestalten, wie sie will - nicht einmal den Mann, den sie später heiraten will, darf sie sich aussuchen. Sie ist zwar heimlich in den jungen Joshua verliebt, aber eigentlich ist sie mit 13 ja auch viel zu jung, um an Heiraten zu denken... In der Sekte ist allerdings es nicht ungewöhnlich, dass Mädchen mit 13 heiraten und mit 14 schon Mütter sind. Die Kindersterblichkeit ist hoch, denn natürlich müssen die Mädchen die Kinder auch zuhause bekommen, ohne ärztliche Hilfe. Und wenn ein Kind krank ist, wird es sogar getötet...

Kyra wird eines Tages befohlen, zu heiraten - und zwar ihren eigenen Onkel, der schon über 60 Jahre alt ist! Als sie sich das erste Mal in ihrem Leben offen gegen den Willen des Propheten auflehnt, nimmt ein Drama seinen Lauf.

Es gibt schon einige Bücher, die sich mit dem Thema Sekten beschäftigen, aber die Autorin verpackt das Thema hier so, dass es mir unverbraucht und originell vorkam. Wir bekommen die Geschichte von Kyra erzählt, und dabei ist der Schreibstil eher schlicht, aber dennoch eindringlich. Oft hatte ich den Gedanken: Mein Gott, das ist ja furchtbar, wie kannst du so ruhig darüber sprechen, Kyra? Aber das unterstreicht ja nur, dass das Leben in der Sekte für sie das Alltägliche ist, dass sie von klein auf damit aufgewachsen ist, zu gehorchen und an den Propheten zu glauben, egal was er tut. Dass sie das Alles überhaupt hinterfragt, wenn auch nur zögerlich, grenzt schon an ein Wunder.

Mich hat die Spannung sehr schnell gepackt und dann wollte ich gar nicht mehr aufhören, zu lesen. Ich wollte SO sehr, dass sich Kyras Leben zum Besseren verändert, denn sie war für mich so lebensecht und sympathisch, dass ich nicht anders konnte, als mit ihr mitzufiebern! Auch ihren Vater, der ehrlich versucht, seinen Frauen und Kindern ein gutes Leben zu bieten, ihre leibliche Mutter und ihre Geschwister mochte ich sehr gerne - und den Propheten und ihren Onkel habe ich richtig gehasst, weil sie so scheinheilig, selbstherrlich und gewalttätig sind. Mein Lieblingscharakter war allerdings der Fahrer des Bücherbusses, denn der hat eigentlich keinerlei Grund, einem fremden Mädchen zu helfen, und tut trotzdem sein Bestes.

Kyra ist zwar in Joshua verliebt, aber eine richtige Liebesgeschichte sollte der Leser dennoch nicht erwarten - diese junge Liebe ist schlichtweg der Auslöser für die Geschehnisse, nicht das Hauptthema.

Kontra:
Dass die Geschichte oft bedrückend und schwer zu lesen war, hat mich nicht gestört, denn das Thema ist nun mal ein ernstes und trauriges. Aber ganz kurz vor Schluss passiert noch etwas, wobei ich dachte: warum? Warum musste das jetzt noch passieren? Man kann sich sicher darüber streiten, ob es nötig war oder nicht, aber für mich war es einfach zuviel.

Man kann sich auch darüber streiten, ob die Mormonen hier akkurat porträtiert werden, da sie sehr extrem dargestellt werden. ABER - es wird deutlich gesagt, dass das Leben in der Sekte unter dem vorherigen Propheten viel besser war, und dass erst der jetzige Prophet es zu solchen Extremen getrieben hat. Das heißt, es geht hier nicht mehr um eine "typische" Mormonen-Sekte, sondern um eine sehr extreme, da ein Extremist sozusagen an die Macht gekommen ist.

Genauso gibt und gab es im Christentum immer mal wieder extreme Sekten, deren Verhalten man nicht als Maßstab dafür nehmen sollte, wie der typische Christ sich verhält.

Zusammenfassung:
Wer sich für das Thema interessiert, wird das Buch sicher interessant und lesenswert finden. Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass es nur am Rande eine Liebesgeschichte ist - und dass die Autorin sich nicht scheut, schlimme Dinge geschehen zu lassen, wo der Leser sich vielleicht etwas ganz Anderes gewünscht hätte.