"Die Überlebenden" von Alexandra Bracken
Dystopien sind im Moment in der Buchwelt sehr "trendy", aber Alexandra Bracken schafft es, sich mit ihrem Roman aus der Masse hervorzuheben - und zwar mit originellen Ideen, glaubhaften Charakteren, einem dichten, atmosphärischen Schreibstil und jeder Menge Spannung.
Klar gibt es schon Bücher, in denen ein Virus einen Großteil der Menschheit ausrottet, und auch die Idee, dass die Überlebenden spezielle Fähigkeiten entwickeln, ist nicht ganz neu. Aber alleine schon die Tatsache, dass hier ausschließlich Kinder betroffen sind, ergibt eine ganz andere Grundlage und wirft viele ethische, moralische und soziale Fragen auf. Wenn das eigene Kind plötzlich das Unbekannte und sogar Bedrohliche verkörpert, kann elterliche Liebe gegen instinktive Angst bestehen? Hat der Staat das Recht, eine ganze Generation von Kindern einfach in Lager einzusperren, statt nach Möglichkeiten zu suchen, sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft in die Zukunft des Landes einzubeziehen? Wie soll es überhaupt weitergehen nach einer solchen Katastrophe, bei der beinahe alle Eltern das Kostbarste verloren haben, was sie hatten - ihre Kinder?
Am Anfang tat ich mich schwer damit, zu akzeptieren, dass es tatsächlich so ablaufen könnte. Dass Eltern ihre Söhne und Töchter einfach so einliefern, dass ein Staat die nächste Generation von Steuerzahlern und Arbeitskräften einfach so abschreiben, dass die meisten Menschen nur noch mit Angst und Abscheu auf unschuldige, schutzbedürftige Kinder blicken würden. Dass es in den Lagern zu derlei sadistischen, unmenschlichen Vorkommnissen kommen könnte.
Aber dann haben mich die Lager, in denen die Kinder leben, mit einem Gefühl des Grauens an die KZs des dritten Reiches erinnert. Und ist das nicht schon die Antwort auf all diese Fragen? Menschen tun viel aus Angst, und korrupte Regierungen benutzen diese Angst.
Die Charaktere fand ich großartig, vor allem Ruby, die Protagonistin. Sechs Jahre hat sie im Lager verbracht. Sechs Jahre, in denen sie keine Schulbildung erhalten hat und stattdessen harte Arbeit verrichten musste. Sechs Jahre, in denen es ihr strengstens verboten war, andere Menschen anzufassen oder den Aufsehern auch nur in die Augen zu blicken. Und trotzdem ist sie nicht gebrochen - traumatisiert und emotional verwundet, ja, aber sie hat immer noch Lebenswillen und Mut.
Auch die anderen Charaktere haben mich voll überzeugt. Da ist z.B. die kleine Suzume, die seit ihrer Zeit im Lager nicht mehr spricht, die aber im Herzen trotzdem immer noch ein Kind ist, das spielen und hübsche Kleider tragen will. Oder der misstrauische Chubs ("Dickerchen"), der alles andere als dick ist, dafür aber Bücher verschlingt, wenn er sie denn bekommen kann. Und Liam, der Suzume und Chubs beschützt, weil es einfach in seiner Natur liegt, sich um Menschen zu kümmern. Und viele mehr... Die Autorin schafft es wirklich, Charaktere zu schreiben, die von ihrer traumatischen Vergangenheit gezeichnet sind, denen man aber auch den Mut abkauft, weiterzuleben statt nur weiterzuexistieren.
Die zusammengewürfelte kleine Familie der Protagonisten begibt sich schließlich auf die Suche nach dem "Flüchtling", dem geheimnisvollen Anführer einer Gruppe von Überlebenden, die angeblich irgendwo gut versteckt in Freiheit leben. Und diese gefährliche Reise, auf der sie sich durch eine zerbrochene Welt kämpfen müssen, war für mich von Anfang bis Ende spannend. Zum einen, weil sie mit allen möglichen Gefahren zu tun bekommen und ständig in Lebensgefahr schweben, und zum anderen, weil ich es faszinierend fand, Ruby dabei zuzusehen, wie sie sich entwickelt.
Der Schreibstil schafft es dabei, einerseits glaubhaft die Gedanken dieses Mädchens zu vermitteln, das die für die Entwicklung wichtigsten Jahre seiner Kindheit ohne Förderung und ohne Schulbildung verbracht hat, und andererseits mit sparsam eingesetzten Bildern das Bild einer Welt am Abgrund zu zeichnen. Gewalt wird zwar nicht ausgeklammert und durchaus explizit beschrieben, aber auch nicht in blutrünstigen Details sensationsgeil ausgeschlachtet - eine Gratwanderung, die der Autorin gut gelingt.
Es gibt eine Liebesgeschichte, die aber erfreulich zurückhaltend und ohne triefenden Kitsch erzählt wird, und wer Dreiecksgeschichten nicht ausstehen kann (wie ich), der sollte an einem gewissen Punkt der Geschichte nicht zu schnell aufschreien und erstmal weiterlesen... Das fand ich wirklich gut gelöst!
Fazit:
Nach anfänglicher Skepsis bin ich schnell in diese beklemmende Dystopie eingetaucht, die einerseits die Geschichte eines Mädchens erzählt, das gegen alle Widerstände einfach nur leben will, und dabei nebenher eine Menge moralischer Fragen aufwirft. Meiner Meinung nach ist das spannende, intelligente Unterhaltung nicht nur für Jugendliche.